Letzte Woche war ich in New York am Broadway, um mir „das heißeste Ticket des Jahres anzuschauen.” Und das für ein Musical aus dem Jahr 1966. Nie zuvor hat mich der Besuch eines Musicals so erschüttert – und das lag sicher mit am innovativen, immersiven Konzept.
Akt 1: Immersion ins Berlin
Das Musical beginnt nicht damit, dass man das Theater durch den Eingang betritt und mit allen anderen gespannt wartet, dass es endlich losgeht. Man betritt diesen Teil des Theaters nie. Stattdessen wird die Schlange vor dem Theater angegangen, der Ausweis verlangt (diese Show ist ab 18) und ein Clubstempel mit dem Logo der Show vergeben.
Und dann geht es ab durch die Hintertür in die Katakomben. Wer auch immer sich das ausgedacht hat, war garantiert schon mal in einem Berliner Untergrundclub. Man folgt mit Poster beklebten weißen Betonwänden und Absperrungen durch durchsichtige Plastikplanen. Dann bekommt man einen Kirschschnaps in die Hand gedrückt und bevor man sich versieht, findet man sich in einem Cabaret der 1920er wieder. Livemusik und Tänzer, sowie thematisch passende Drinks und Snacks versüßen die „Wartezeit“. Die glücklichen, die die „Preshow“ mit Abendessen gebucht haben (für nur 450 Dollar je Ticket) dürfen bereits jetzt ins „Cabaret“ eintreten. Die Tänzer und Musiker bewegen sich zwischen diesen beiden Venues hin und her. Jede Person ist Teil dieser Welt beim Zeitpunkt des Einsehens der Plätze. Alle sind Teil der Party im Cabaret 1929. Im Cabaret selbst waren übrigens keine Bilder erlaubt nach dem Schnaps. Was im Cabaret passiert bleibt im Cabaret.
Akt 2: Das Leben ist eine Party im Kit Kat Club
Berlin 1929, der Kit Kat Club ist das Berghain der 1920er. Der MCee preist die Vorzüge mit dem berühmten Song „Willkommen, Bienvenue, Welcome.” Die Bühne ist in der Mitte des Jahres, rund und umgeben von Tischen, wo Bühne anfängt und Publikum aufhört, wird von Anfang an aufgelöst. Die Tänzer:innen haben null Berührungsangst. Das fühlt man auch auf den „billigen Plätzen“ (schlappe 140 Dollar), denn auch hier tauchen immer mal wieder Tänzer:innen auf der Empore auf. Niemand wird vergessen. Alle sind Teil der Party. Das spürt man vor allem immer, wenn Adam Lambert, der vor kurzem die ikonische Rolle von Eddie Redmayne übernommen hat, die Party anheizt.
Wir folgen zwei Liebesgeschichten: die der Cabaretsängerin und des amerikanischen Schriftstellers, und die der Unterkunftsbesitzerin und des Ladenbesitzers. Letztere endet in einer rauschenden Verlobungsfeier. Doch so schnell, wie die Party entsteht, ist sie vorbei. Denn der Freund, bei dem man Geld mit Schmuggel nach Paris verdienen kann, stellt sich als Nazi heraus. Die Stimmung kippt.
Akt 3: Das Ende der Party
Der letzte Akt beginnt mit einer der eindrücklichsten Musicalnummern, die ich jemals gesehen habe. Der MCee erscheint wieder auf der Bühne, doch nicht als Mensch, sondern als Tod. Auf dem Kopf ein Sturmhelm. Der Tod tanz durch Europa.

Das Herz rutscht einem in die Hose, denn die Nachricht dahinter ist sofort klar: Wenn wir auf diesem Weg weitergehen, tanzt der Tod bald wieder durch Europa und vielleicht die ganze Welt. Aus den Tänzen werden Märsche. Und wie geht es unseren Paaren? Die Cabarettänzerin beschließt zurück ins Cabaret zu kehren und die Party bis zum Ende durchzuziehen. Der amerikanische Schriftsteller verlässt das Land, solange er noch kann. Er versucht andere zu überreden, ebenfalls zu gehen. Doch der Ladenbesitzer hat ein gebrochenes Herz, weil die Unterkunftsbesitzerin vor Angst die Verlobung löst. Denn was immer mal wieder durchscheint, ist, dass er Jude ist. Sein Laden wird angegriffen. Und dennoch sagt er sich wie ein Mantra, dass ihm nichts passieren wird, weil er ja Deutscher ist. Alle im Publikum wissen, dass ihn das am Ende nicht retten wird.
Ein letztes Mal kehren wir ins Cabaret zurück. Doch die Musik klingt verzerrt, die Kostüme sind nun Uniformen. Die Party ist vorbei.
Mein Fazit: Wie gut die Immersion in die Welt des Cabarets funktioniert hat durch die Ergänzung des ersten Akts merke ich gerade wieder daran, dass mir beim Schreiben dieser Zusammenfassung ein Kloß im Hals steckt. Die Inszenierung ist äußerst zeitgemäß, drei Wochen vor einer US-Wahl, die Auswirkungen auf die ganze Welt haben könnte. Eins macht sie aber auch klar, Jede:r von uns hat eine Wahl wie wir uns verhalten. Ein äußerst wichtiger Fingerzeig.
Cabaret ist also berechtigterweise das heißeste Ticket am Broadway. Es zeigt, wie immersives Musical in Zukunft aussehen kann und wie sehr es die Kraft hat, Menschen tief zu berühren. Zukunft jetzt, in New York 2024.
Ein paar mehr Eindrücke gibt es auf der Website des Cabaret at the Kit Kat Club.
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